Nach mehr als vier Jahren in der Entwicklung ist das Ende letzten Jahres bereits für Android erschienene Auro: A Monster-Bumping Adventure von Dinofarm Games (100 Rogues) nun auch für iOS verfügbar. Unzählige Design-Iterationen hat der Titel mittlerweile durchlaufen. Aus dem minimalistischen Roguelike von einst ist ein fundamental neuartiges Spielprinzip entstanden. Nun versucht der rundenbasierte Taktik-“Schubser”, für dessen Regelwerk primär Game-Design-Vordenker Keith Burgun verantwortlich zeichnet, also gleich in mehrfacher Hinsicht die Gaming-Landschaft zu revolutionieren. Ob das auch gelingt, soll im Folgenden auf Basis mehrjähriger Betatest-Erfahrungen und insgesamt tausender Partien, davon zighundert seit dem offiziellen Release, beurteilt werden.
Wer ist eigentlich Auro?
Zunächst einige Worte zur Hintergrundgeschichte: Der Spieler übernimmt die Kontrolle über den jungen – und offenbar enorm verwöhnten – Prinzen Auro. Dieser stellt regelmäßig allerlei Unsinn an und raubt seinem Vater samt Gefolgschaft den letzten Nerv. Zur Krönung seiner Streiche befreit er eines Tages – natürlich aus Versehen – den Geist Argos, seines bösartiges Pendants. Natürlich lässt dieser fortan Unmengen von Monstern auf das Königreich los. Nun soll Auro diesem Schlamassel mit Hilfe eines Zauberstabs und gut gemeinter Ratschläge seines vogel-humanoiden Mentors beikommen. Das Setting wird übrigens auch durch das nachfolgende verlinkte, sehr nett gemachte Einführungsvideo in bewegten Bildern eingeführt. Somit ist die Bühne also bereitet für die beiden Spielmodi: In den ausführlichen Tutorial-Missionen werden zunächst alle wichtigen Mechanismen schrittweise eingeführt, bevor es ans Eingemachte geht.
Schon in den ersten Minuten wird dabei deutlich, worum es spielerisch geht – nämlich ums “Schubsen”. Auro prügelt nicht auf Monster ein, um diesen Schaden zuzufügen und sie so zu besiegen, sondern er stößt sie lediglich ein Hexfeld von sich weg. Eliminieren lassen sie sich somit zunächst nur durch einen beherzten Rempler vom Rand des Spielfeldes in das die überfluteten Kellergewölbe des Königreichs umgebende Wasser. Die Levels werden zufällig generiert, allerdings in klar abgesteckten Rahmen, sodass keine unfair schweren oder zu leichten Ausreißer entstehen. Beispielsweise werden die Monster zwar randomisiert verteilt, jedoch stets – je nach Schwierigkeitsgrad und Level – aus einem explizit festgelegten Pool ausgewählt. In Kombination mit dem variablen Layout aus Säulen, Löchern, Ecken und – für das Hinunterschubsen natürlich unerlässlichen – Levelrändern ist dennoch für die langfristige Vielfalt der Herausforderungen gesorgt, ohne dass der Glücksfaktor jemals die Oberhand gewinnt.
Zauberhaftes Zusammenspiel
Auch wenn sich der zentrale Mechanismus des Schubsens schon unmittelbar interessanter als ein bloßes gegenseitiges Eingedresche darstellt, so liegt die wahre Komplexität des Spielsystems dann doch in den allesamt um diesen Kern herum aufgebauten unterstützenden Spielregeln: den Zaubern. Dank seines magischen Stabes kann Auro die Elemente Eis, Feuer und Wind manipulieren. Allerdings gilt auch hier die Devise der indirekten Aktionen. Es werden nicht etwa Feuerbälle auf Monster geschleudert, sondern Flammen auf dem Spielfeld platziert, sodass es im Anschluss erst einmal gilt, die Feinde in vorteilhafte Positionen zu locken, um sie per Schubser oder zusätzlichem Zauber in diese zu befördern. Nun kann jedoch alternativ zuvor ein Teil des Bodens mit Eis überzogen werden, über das Monster auch mehrere Felder weit ins Feuer rutschen. Auf einer weiteren Kombinationsebene könnte ein Luftwirbel inmitten der Eisfelder platziert werden, der Monster bei Kontakt extra weit durch die Luft befördert – und dann wiederum ins Feuer oder Wasser, in einen weiteren Wirbel oder sogar auf den Kopf eines anderen Monsters, von dem aus gleich noch weiter gehüpft wird. Die insgesamt neun Zaubersprüche, von denen in jeder Partie eine Handvoll zufallsbasiert verfügbar ist, interagieren so auf unzählige Arten und Weisen miteinander sowie dem – teils durch sie selbst erzeugten – Terrain.
Doch damit nicht genug der Emergenz. Auch alle im Spiel enthaltenen Monster haben jeweils ihre eigenen taktisch relevanten Fähigkeiten. So schleudern beispielsweise die muskelbepackten “Brutes” Auro gleich zwei Felder weit von sich und können aufgrund ihres Körpergewichts ohne die Unterstützung von Eis, Wind oder Explosionen nicht einfach weggeschubst werden. Der “Trickster” tauscht kurzerhand die Position mit dem Spieler, wobei raffinierte Spieler diese und andere Monsterfähigkeiten gerne auch zum eigenen Vorteil verwenden. Die besonders schnellen “Curse Kids” wiederum verteilen verfluchte Süßigkeiten und belegen damit einen von zwei Zusatz-Slots für in der Spielwelt verteilte, einmalig anwendbare Versionen der Zauber. Wieder freimachen lässt sich der Slot anschließend nur durch den Verzehr des ungewollten Geschenks – und damit der Inkaufnahme eines Schadenspunktes. Ganz richtig, im Gegensatz zu den Monstern, die allesamt unmittelbar beim Kontakt mit Wasser oder Feuer das zeitliche segnen, besitzt der Spieler anfänglich sieben Schildpunkte. Werden diese im Verlauf einer Partie auf 0 reduziert, ist der Durchgang verloren. Häufig gilt es in diesem Zusammenhang, gezielte Trade-off-Entscheidungen nach dem Motto “Tausche Gesundheit gegen Siegpunkte!” zu treffen.
Damit solche und andere strategische Entscheidungen auch langfristig im weitestgehend deterministischen Spielsystem überleben können, ohne zu lösbaren Puzzles zu verkommen, bedient sich das Spiel ausgiebig dem Konzept der versteckten Information. Lediglich drei Hexfelder um Auro herum sind in alle Richtungen einzusehen. Dies ist gerade genug Wissen, um ein taktisch geplantes Vorgehen zu ermöglichen, aber nicht so viel, dass sich große Teile eines Levels schon im Vorhinein “durchrechnen” ließen. Überhaupt ist auffällig, dass es durch die Tiefe, die den Aktionen sowie deren Interaktion untereinander innewohnt, beim Spielen sehr stark auf die Intuition bei der Entscheidungsfindung ankommt. Zahlen, Mathematik beziehungsweise das teilweise Lösen von Situationen helfen in der Regel hingegen nicht weiter. Auro ist durch und durch ein Taktik- und kein Puzzlespiel.
Punktesystem und Metagame
Auch in Sachen übergeordneter Spielstruktur wandelt der Titel konsequent auf innovativen Pfaden. Erfreulicherweise geht es hier nämlich, beispielsweise im Gegensatz zu vielen ansatzweise ähnlichen Vertretern des Roguelike-Genres, nicht um die bloße Highscore-Jagd, die sich aus diversen Gründen als deutlich suboptimales Modell für Strategiespiele erweist. In Auro kann jede Partie gewonnen werden, indem eine bestimmte Punktzahl erzielt wird – ohne dass Auro zuvor das zeitlich segnet. Die aktuelle Punktzahl präsentiert sich somit als Countdown und nicht als stetig steigender Wert. Für das Besiegen eines Monsters gibt es zwischen einem und vier Punkten, je nachdem wie viele Runden der letzte “Kill” zurückliegt. Konsistenz bei der Monsterbeseitigung sowie ein grundsätzlich offensiver Spielstil zahlen sich also unmittelbar aus, langes Herumtrödeln wird hingegen bestraft. Das cleverste und spektakulärste Vorgehen, beispielsweise der effiziente Einsatz von drei oder vier Zaubern in direkter Abfolge, stellt somit in der Regel auch das vom Spiel am stärksten belohnte dar. So wird der Spieler immer wieder zu inhärent befriedigenden Mini-Geniestreichen animiert. Zu defensive und langatmige Strategien werden hingegen in der Regel nicht genügend Punkte abwerfen, um eine Partie gewinnen zu können, bevor der Spieler in deren späterem Verlauf überrannt wird.
Jeder Spielausgang, ob Sieg oder Niederlage, hat im Anschluss Auswirkungen auf das Metagame. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei schlicht um einen Erfahrungsbalken, der gefüllt werden kann und somit Schrittweise das Level des Spielers erhöht. Da allerdings genügend Niederlagen diesen Rang auch wieder verringern können, handelt es sich vielmehr um ein dynamisches Regelungssystem, das den Schwierigkeitsgrad stetig an das Können des Spielers anpasst. Dabei wird nicht einfach die Zielpunktzahl erhöht, sondern es findet alle paar Stufen ein komplettes Rebalancing statt, um den Spieler vor grundlegend neue Herausforderungen zu stellen. Das in vielen Multiplayer-Spielen längst etablierte Konzept des “Matchmaking” wird in Single-Player-Titeln bisher kaum verwendet, erweist sich hier, inklusive initialer Einordnungspartie, jedoch als absoluter Segen. Nicht nur nimmt es dem Spieler die Quasi-Designarbeit der Ermittlung, Einstellung und Anpassung des Schwierigkeitsgrades ab, sondern sorgt auch dafür, dass der kompetitive “Flow” stets aufrechterhalten werden kann. Der Spieler wird weder über- noch unterfordert und die Siegrate nähert sich frühzeitig den psychologisch als optimal erachteten 50%.
Jede Sekunde zählt!
Diese spielerische Effizienz erstreckt sich des Weiteren auch auf alle sonstigen Aspekte des Spiels. Es wird hier keine Sekunde Zeit verschwendet. Eine interessante Situation jagt die nächste, kein Schritt wird ohne für den Spielzustand relevante Folgen unternommen. Dazu trägt insbesondere auch das “Cooldown”-System bei. Jeder Zauber verlangt vor der erneuten Benutzung das Einsammeln einer bestimmten Anzahl von “Power Tiles”, die auf einigen der Hexfelder im Level zu finden sind. Da prinzipiell alle Zauber gleichzeitig aufgeladen werden können, ist es in den meisten Fällen strategisch unklug, diese Felder zu passieren, sofern sich gerade kein oder vielleicht nur ein einziger Zauber im Ladezustand befindet. Daraus ergeben immer wieder schwierige Entscheidungen, da zwischen einer eventuell vorteilhaften Position einerseits und dem Verschwenden der Ladefelder andererseits abgewägt werden muss. Zudem wird jeder einzelne Schritt, also schon die absolute Basis-Interaktion zwischen Spieler und Spiel, durch diesen Regelmechanismus bedeutsam. Das aus zahlreichen modernen Videospielen bekannte stupide Entlanglaufen von Korridoren auf der verzweifelten Suche nach Spannung und Spaß gibt es hier nicht.
Ähnliches gilt auch für das Regelwerk selbst, das sich frei von jeglichem überflüssigen Ballast präsentiert. Alle enthaltenen Spielelemente sind engmaschig miteinander verwoben. Jeder Zauber interagiert mit allen anderen, alle Terraintypen lassen sich miteinander kombiniert verwenden, jedes Monster hat ganz eigene Implikationen für die Positionierung im Level und den taktischen Einsatz der Fähigkeiten. Bei Auro handelt es sich um ein “Clockwork Game Design” und damit den ersten wirklich konsequenten Vertreter der im (in Kürze erscheinenden) gleichnamigen Buch von Designer Keith Burgun vorgestellten Entwurfsphilosophie für Strategiespiele. Durch den Aufbau jedes einzelnen Elements des Spielsystems um einen klaren Kernmechanismus (hier das “Bumping”) herum, kann eine ungewöhnlich hohe Eleganz erzielt werden. Das heißt, das Spielsystem ist vergleichsweise leicht zu erlernen. Die sich aus der Kombination der für sich genommen einfachen Elemente ergebende Spieltiefe ist allerdings, durch die zahlreichen Regel-Querverbindungen, wiederum enorm. So lässt sich Auro innerhalb von Minuten erlernen, im Anschluss jedoch über Jahre hinweg meistern.
Probleme und Lösungen
Natürlich bringt ein derart verflochtenes Spielsystem auch seine Tücken mit sich. Insbesondere befinden sich immer noch ein paar kleinere Gameplay-Ungereimtheiten im Spiel. So sollte beispielsweise die Reihenfolge, in der sich die Monster bewegen deterministisch festgelegt sein. Hin und wieder kommt es dabei aber zu Ausreißern, die – gerade aufgrund der Dichte des Systems und der damit verbundenen Bedeutsamkeit jeder Regelfeinheit – schonmal dazu führen können, dass völlig unerwartet eine heikle Situation entsteht. Probleme dieser Art sowie diverse kleinere Bugs sind natürlich ärgerlich, tun dem Spielspaß aber, dank der grundsätzlich sehr hohen Effizienz bei dessen Vermittlung, keinen Abbruch. Zudem dürften sie in naher Zukunft ohnehin das virtuelle zeitliche Segnen, denn die Entwickler arbeiten seit dem Release fieberhaft an der Ausmerzung jeglicher verbliebener Fehler.
Doch auch über die bloße Bug-Jagd hinaus nehmen Dinofarm Games die weitere Arbeit am Spiel sehr ernst. So wird regelmäßig am Balancing geschraubt, es werden Detailänderungen an den Zaubern vorgenommen, um deren Interessantheit zu optimieren, und auch über zusätzlichen Content wird bereits nachgedacht. Im kommenden Update soll es zudem ein kompakteres Tutorial und signifikante Änderungen am Metagame geben. Es wird dabei grundsätzlich eine Reduzierung der Partienlänge von 10-15 Minuten auf 5-10 Minuten angepeilt. Die Zielpunktzahlen sollen kleiner werden und die Matches im späteren Verlauf stark im Schwierigkeitsgrad anziehen, um einen noch offensiveren Spielstil von Anfang an zu forcieren und so auch wirklich jedes letzte eventuell verbliebene Quäntchen Ineffizienz aus dem System zu verbannen. Die seit dem iOS-Release rapide wachsende Spielerschaft darf gespannt sein, wo in Zukunft noch die Perfektionsfeile angesetzt wird.
Game-Design-Revolution?
Welch spezielle Erscheinung Auro in der Videospielelandschaft darstellt, lässt sich am besten durch einen Blick darauf erkennen, was es nicht ist: Es gibt keine Rollenspielelemente, keine Items, keine Beute, kein Crafting, keine Erfahrungspunkte oder -levels, keine Skill-Bäume, keinen Grind, keine leeren Korridore oder Landstriche, keine statischen und lösbaren Puzzle-Situationen, keine “No-Brainer” und trivialen Fleißaufgaben, keine einzige Spielereingabe ohne nachhaltige Bedeutung, kein Überspringen von Runden, kein “Trial-and-Error”-Herumprobieren, keine versteckten Regeln oder Berechnungen, keine “Stats” (wie Schaden, Stärke, Präzision oder ähnliches), keine direkten Angriffe, keine “kritischen Treffer”, kein virtuelles Würfeln und, dank asynchronem Eingabesystem, auch kein unnötiges Warten auf Animationen. In dieser Hinsicht steht das Spiel tatsächlich weitestgehend allein und in vielen Fällen für eine Art Antithese zur von audiovisuellem Spektakel, Retorten-Designs und immer anspruchsloserem Linear-Gameplay dominierten AAA-Landschaft.
Auro platzt in Sachen Game-Design vor Effizienz und Spieltiefe also fast aus allen nähten. Dies gelingt jedoch, ohne den Ersteindruck völlig zu vernachlässigen. Dem detailverliebten und schon auf den ersten Blick einladenden Artwork sind die Leidenschaft und Mühe in jedem Pixel anzusehen. Dazu gesellt sich der großartige, zwischen Klassik und Retro-Synthie-Pop verortete und mit Ohrwurmmelodien gespickte Soundtrack, kreiert von den beiden Dinofarm-Gründern – ihrerseits studierte Komponisten – persönlich. Natürlich handelt es sich ganz klar um eine Indie-Produktion, die oberflächlich betrachtet nicht mit modernen Mammutprojekten samt Hollywood-Budgets zu vergleichen ist. Dennoch: In der zu jedem Zeitpunkt absolut bewussten Planung und Ausführung unzähliger spektakulärer Manöver während jeder Partie steckt sehr viel mehr echtes Superheldentum als in sämtlichen cineastischen Blockbuster-Games der Marke “Press X to win!” zusammen. Und genau diese Qualität macht Auro zu einem der großartigsten Videospiele aller Zeiten!