Vom Glauben an den AAA-Gott

“Sind die Entwickler von Computerspielen die großen Erzähler unserer Zeit?”, fragt Leander Haußmann in seinem Gastbeitrag auf Zeit Online. Eine interessante und berechtigte Frage. Und auch das “Jawohl!”, das dem Leser entgegen geschmettert wird, ließe sich verargumentieren. Die Gründe allerdings, die der Regisseur und Schauspieler in seinem Text liefert, sind bestenfalls fragwürdig – und das vorhersehbar.

Bevor es nominell um Spiele geht, werden zunächst einige Absätze auf kindheitliche Träume von Freiheit und Gewalt verwendet. Da ist die Rede von möglichst echt aussehenden Spielzeugwaffen und Teddybären, die verprügelt wurden. Doch jetzt, im Jahr 2019, geht das alles noch viel realistischer und epischer. Dank Red Dead Redemption 2.

“Was ist das verdammt noch mal für ein Spiel, das diese Leute von Rockstar Games kreiert haben? Was für ein Kindheitstraum ist da wahr geworden! Man kann es nicht anders sagen: Das sind die Genies, das sind die großen Erzähler unserer Zeit.”

Herr Haußmann macht keinen Hehl aus seiner Begeisterung. Manch einer aus der Branche wird froh sein, dass mal jemand “von außen” so über Spiele schreibt und nicht an jeder Ecke die kritischen Fragen nach verrohenden Botschaften oder gar gleich der Sinnhaftigkeit des Mediums als solchem mitschwingen. Doch was genau begeistert denn nun am spielbaren Western?

“Dieses Spiel ist eine Offenbarung. Es ist ja nicht nur ein spielbares Abenteuer, es ist hochintellektuell, sehr filmisch, und die Dialoge sind vom Feinsten. Bei so manchem langen Ritt wird gequatscht, was das Zeug hält. Dialoge wie die von den Regisseuren Sam Peckinpah und Quentin Tarantino: Man hört die Anleihen, die Zitate, und man ist von heiliger Bewunderung erfüllt.”

Die Tatsache, dass es ein “spielbares Abenteuer” ist, sagt zunächst nicht viel mehr aus, als in welche Produktkategorie das Ding gehört. Die näher definierten Stärken sind jedoch vor allem eins: “filmisch”, was hier sogar schon an und für sich als Qualitätsmerkmal zu gelten scheint. Von tollen Dialogen ist die Rede, die auf langen – übrigens weitgehend passiven und damit leider so gar nicht wirklich “spielerischen” – Ritten abgespult werden. Sie erinnern an Peckinpah und Tarantino – beide nicht gerade für die Interaktivität ihrer Werke bekannt.

Leander Haußmann: “Wäre ich noch mal am Anfang, also wäre ich noch mal jung, ich würde Spieleentwickler werden. Ich fürchte nur, man würde mich da nicht aufnehmen.” Angesichts der steten Dominanz filmischer Inszenierung auf dem AAA-Markt, wäre ich mir da nicht ganz so sicher…

So richtig überzeugende Argumente für das Spiel als eigenständige Kunstform wurden bislang also nicht geliefert. Umso weniger verwundert auch der folgende Absatz:

“Wenn man diese Offenbarung erlebt hat, treibt es einen zur Missionierung. Dann geht man mit kindlicher Begeisterung von Erwachsenem zu Erwachsenem und versucht jedem einzelnen klarzumachen, dass seine Verweigerung nur ihm selbst schadet. Aber es ist sinnlos. Mensch, Leute, mit dieser Grundhaltung wäre das Christentum niemals entstanden!”

Mal ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob die Entstehung des Christentums ein zweifelsfrei freudiges Ereignis war, erst noch zu klären wäre: Es ist bezeichnend, dass Haußmann hier den Bogen zur Religion schlägt. Denn über den ganz festen Glauben hinaus, dass das Spielsein als solches – wohl durch den bloßen Akt des Controller-Haltens beim Tarantino-Dialog – einen Mehrwert für jede filmisch inszenierte Erzählung liefere, haben wir ja bislang keine guten Gründe erfahren.

Leider tut sich in dieser Hinsicht dann auch nicht mehr viel. Das ist im Übrigen weniger eine Kritik am Artikel selbst als an der Auswahl der Beispiele. Denn diese erschöpfen sich, rein spielerisch betrachtet, eben dann doch recht schnell.

Entsprechend folgt stattdessen eine narrative Inhaltsangabe. Arthur Morgan hat Tuberkulose, wird morphiumsüchtig, prügelt sich. Das alles ist so linear und hat, jenseits der “verschleppten Steuerung” je nach Alkoholpegel des Protagonisten, so wenig mit Interaktivität zu tun, da ist es kein Wunder, dass der Filmemacher seine Freude hat. Übrigens genau wie am ersten Medal of Honor, das wie wir erfahren “von Steven Spielberg entwickelt” wurde. Oder hat der vielleicht doch vielmehr Regie geführt und sich um Story und Zwischensequenzen gekümmert?

Auch hier geht es Theater-Profi Haußmann ums “Nachspielen”. Nur eben nicht in der Rolle des Western-Outlaws, sondern der eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Spiele werden also letztlich als stark thematische Achterbahnfahrten durch aufwändig inszenierte Settings verstanden. Wo mit dieser Definition hantiert wird, interessierten die Details der Mechanik und des Regelwerks natürlich nicht wirklich – selbst im vermeintlichen Medium der Interaktion.

“Durch das Spiel Call of Duty weiß ich nun endlich, wie sich der Weltraum anfühlt. Manches Mal muss ich jubelnd innehalten: Dass ich so was noch erleben darf! Wer jemals eine elektrische Eisenbahn hatte, so raffiniert und komplex sie auch in der Schienenführung ist, sie fährt nur im Kreis. Gähn.”

Wieder ein unbewusst interessanter Vergleich. Auch Call of Duty setzt nämlich ausgiebig auf Schienenführung. Nur fährt die Bahn nicht im Kreis, sondern eben eine feste, vorgefertigte Strecke vom Anfang bis zum Ende ab. Wer versucht abzuweichen, wird schnell wieder eingefangen oder spielt notfalls die letzten Minuten nochmal neu. Für einen Film ist diese Linearität nichts Besonderes. Im Spiel aber vielleicht doch eher “Gähn”?

“Es ist mir rätselhaft, wie normale Menschen ein so komplexes Spiel entwerfen können, wie es Red Dead Redemption 2 ist. Und genauso rätselhaft ist es mir, wie es möglich ist, dass nicht alle total begeistert sind davon. Aber so ist es nun mal hierzulande: Was? So was? Nein, das spiele ich nicht! Visier runter.”

Zum Schluss dann noch der Rundumschlag in Richtung Öffentlichkeit und Politik. Sinngemäß: Die verstehen Spiele halt einfach nicht, sonst würden sie Red Dead 2 schon abfeiern!

Ich verstehe Spiele ganz gut, Herr Haußmann, und halte den Titel auch für handwerklich sehr gut gemacht, aber als künstlerischen Ausdruck seines Mediums für schwach bis höchstens mittelmäßig. Zu sehr biedert er sich beim Film an. Zu viel der investierten Zeit füllt er mit – gut gemachten – passiven und so gar nicht spielhaften Inhalten. Über zu weite Strecken nehme ich nicht wirklich Teil, treffe keine interessanten Entscheidungen, bin als Spieler weitgehend irrelevant. Mir passieren Dinge, mir passiert eine Geschichte, aber ich schreibe sie nicht.

Übrigens, unabhängig vom konkreten Inhalt der Rede, taugt folgende Zusammenfassung nicht zur vorgenommenen Bewertung:

“Ich erinnere mich noch gut an die dumme Rede vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Deutschen Filmpreis. Sie war eine Mahnung an uns Filmemacher und an die Spieleentwickler. Wir sollten darauf achten, sagte er, wie wir Gewalt darstellen, wir sollten uns ethischen und moralischen Fragen stellen und uns klarmachen, inwiefern wir Verantwortung tragen.”

Die “großen Erzähler unserer Zeit” sollen sich Gedanken über ihre ethische Verantwortung machen? So “dumm” wirkt das gar nicht. Es sei denn, man ist dem blinden Glauben an den AAA-Gott schon verfallen…

Aber sei es drum. Ich möchte hier nicht bloß meckern. Ich finde es ehrlich großartig, wie Herr Haußmann sich für das Medium begeistert. Damit hat er den ja tatsächlich zuhauf existierenden “Visier-runter”-Konsorten schon einiges voraus. Daher habe ich für ihn – und vielleicht auch jeden ähnlich begeisterten AAA-Story-Spieler – eine Empfehlung: Schaut doch mal über den Tellerrand! Schaut zu What Remains of Edith Finch, zu This War of Mine, zu Banished, zu Brothers: A Tale of Two Sons, zu Papers, Please oder vielleicht sogar zu RimWorld.

Dabei bekommt ihr sicher weniger “filmische” Inszenierung und weniger Tarantino-Dialoge geboten, aber dafür Geschichten, die ihre Interaktivität nutzen und brauchen, die mechanisch und systemisch erzählt werden, die nur als Spiel funktionieren. Und genau deshalb stehen diese Titel viel eher für das einzigartige Potenzial der Kunstform als all die “Blockbuster” von Rockstar, Activision und Co.

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