Tarkov: Gegen jede Regel

Escape from Tarkov funktioniert viel besser als es, gemessen an konventionellen Richtlinien “guten Game-Designs”, sollte. Doch damit nicht genug – es weicht diese sogar gezielt auf und wandelt die dadurch entstehenden vermeintlichen Schwachstellen mit Hilfe eines einzigartigen Core-Loops in Stärken um.

Entsprechend hat sich der Ego-Shooter der russischen Battlestate Games trotz aller Einsiegshürden – inklusive enormer Komplexität, hoher Anforderungen an die Eigenmotivation der Spieler sowie Premium-Preismodell – bereits millionenfach verkauft. Ein Erklärungsversuch aus Sicht des Systemdesigns.

Worum geht es?

Tarkovs Kernspiel ist ein auf Realismus getrimmter Multiplayer-First-Person-Shooter rund um private Militärunternehmen in der nahen Zukunft. Je nach Größe des Areals werden 5-14 Spieler in geschlossenen Instanzen (“Raids”) zufällig über die Map verteilt und haben das grundlegende Ziel, einen der für sie verfügbaren Austrittspunkte (“Exfil”) zu erreichen.

Dazu müssen sie in aller Regel die Karte weitläufig durchqueren und treffen tendenziell auf andere Spieler sowie computer-gesteuerte Gegner, sogenannte Scavenger (“Scavs”). Die konkrete Route jedes Spielers folgt dabei in den seltensten Fällen der Luftlinie und hängt von diversen Faktoren ab: Konflikte vermeiden oder suchen? Wo gibt es Deckung? Muss ein bestimmter Ort zum Erfüllen einer Aufgabe aufgesucht werden? Wie steht es um Munition, Nahrung, Wasser, Gesundheit?

“Shoreline” ist eine der Maps in Tarkov. Spieler starten zufällig verteilt und müssen einen der für sie verfügbaren (in der Regel relativ weit entfernten) Ausgänge erreichen. (veranschaulichende Darstellung)

Das Spielgefühl ist intensiv, die Atmosphäre dicht. Die Levels bieten zig Optionen für Deckung, Schusswinkel und taktische Manöver. So weit, so potenziell spannend, aber letztlich bloß ein gut gemachter Shooter? Nein. Der Tarkov-Clou steckt im Metagame und der Struktur, in die ebenjene Feuergefechte eingebettet werden.

Ein bedeutsames Metagame

Während die einzelnen Raids zwar grundsätzlich als 10- bis 40-minütige, in sich geschlossene Sessions ablaufen, ergeben sich die Ausstattung und Ziele jedes Spielers aus dem übergeordneten Metagame. Dort gilt es einerseits, Aufgaben für die NPC-Händler zu erfüllen, um ihr Vertrauen zu gewinnen und so Zugang zu einem immer besseren Arsenal an Waffen, Munition und Ausrüstung freizuschalten. Andererseits kann das eigene Versteck mit bestimmten Baumaterialien ausgebaut werden, wodurch unter anderem auf hochwertigere Crafting-Rezepte zugegriffen oder im Endgame per Bitcoin-Farm auch direkt Geld generiert werden kann.

Inventar-Management gehört in Tarkov zum Alltag. Eines der beliebtesten Features aus der jüngsten Vergangenheit ist deshalb die “Sorting Table”, die temporär unbegrenzten Platz zum Umräumen bereitstellt.

Aus diesen beiden Fortschrittsachsen ergeben sich konkrete Ziele für jeden Raid. Beispielsweise müssen Spieler einen bestimmten Ort aufsuchen, um dort eine Aufgabe zu erfüllen, eine gewisse Anzahl Scavs beziehungsweise Spieler jagen oder spezifische Gegenstände finden. Auch möglichst viel Geld zu verdienen, sprich speziell nach besonders seltenen Items zu suchen und diese zu verkaufen, ist eine häufige Motivation. Je nach Art der Aufgabe kann auch ein anderes initiales “Loadout” sinnvoll oder gar notwendig sein.

Das Multiplayer-Roguelike

An dieser Stelle tritt das nächste Puzzle-Stück der Tarkov-Formel ins Rampenlicht: Alles, was mitgebracht wird, steht auf dem Spiel. Wer stirbt, dessen Leiche wird zum Loot-Container, aus dem sich andere Spieler nach Belieben bedienen können. Die Ausstattung für den nächsten Raid muss wieder neu aus dem Lager oder durch Zukauf bei erwähnten Händlern bereitgestellt werden. Der Meta-Progress – insbesondere was Items und Geldvorräte betrifft – ist somit keine Einbahnstraße, sondern vollwertiger Teil des Spiels, aus dem sich immer wieder interessante Entscheidungen und Risiko-Abwägungen ergeben.

Da, unter Umständen hochwertige, Ausrüstung permanent verloren gehen kann, gleicht das Spielgefühl durchaus dem eines Roguelikes. Sich in eine unvorteilhafte Position zu begeben oder sich zu laut zu bewegen, sodass – möglicherweise besser ausgerüstete – andere Spieler Informationen über den eigenen Aufenthaltsort ableiten könnten, kann fatale Folgen haben. Jeder Schritt ist von Bedeutung.

Eine der zentralen Fragen im Roguelike-Genre: Persistenter Fortschritt (und langfristige Bedeutsamkeit der investierten Spielzeit) oder nicht (und damit voller Fokus auf Skill und Lernen)? Tarkov: “Why not both?”

Oftmals setzen Roguelikes ihr Metagame dazu ein, Spielern mit der Zeit das Leben zu erleichtern und so das Gefühl stetigen Fortschritts zu vermitteln. So lassen sich etwa in Rogue Legacy unzählige kleine Vorteile erwerben, die beispielsweise dauerhaft die Lebenspunkte oder den ausgeteilten Schaden des Spieler-Avatars erhöhen. Beim “Hardcore”-Publikum ruft dies in der Regel einigen Unmut hervor. Wie lässt sich der eigene Skill in einem solchen System noch vernünftig messen? Werde ich selbst besser oder nur mein Pixel-Ich? Bleibt mir das “richtige” Spiel verschlossen, bis ich genügend Zeit investiert habe?

Nun kann im anderen Extrem natürlich ganz auf persistenten Fortschritt verzichtet werden, wie im Urvater Rogue oder auch dem modernen Klassiker Spelunky. Jeder Durchlauf ist in sich abgeschlossen und hat – jenseits des erworbenen spielerischen Könnens und Wissens – keinerlei Verbindung zum nächsten. Da hierbei nach dem virtuellen Ableben nichts übrig bleibt, stellt sich bei vielen Spielern jedoch gerne mal ein Gefühl von verschwendeter Zeit ein.

Daher wurde zuletzt eine Zwischenvariante der Progression populärer, auf die sich alle halbwegs einigen können: Es werden neue Features und Varianten freigeschaltet, aber keine spielerischen Erleichterungen. In The Binding of Isaac sind das Charaktere und Items, in FTL Raumschiffe, in Into the Breach Mechs, in Monster Train Karten. Ein praktischer Nebeneffekt: Insbesondere komplexere Elemente lassen sich auf spätere Runs, in denen Spieler schon etwas erfahrener sind, verlagern.

Auch Tarkov bietet persistenten Fortschritt. Dieser verblasst jedoch gegenüber der Tiefe des restlichen Metagames.

Tarkov tut all diese Dinge zugleich:

  • Der Avatar trainiert mit der Zeit grundlegende Fähigkeiten wie Ausdauer oder Geschwindigkeit. Erfahrungspunkte und Ausbaustufen des Verstecks sind ebenfalls permanent.
  • Die Ausrüstung (und damit der Geldvorrat) steht jederzeit auf dem Spiel und kann für immer verloren gehen. Ausnahme: Während eines Raids im “Secure Container” platzierte Items bleiben erhalten. (Vor dem totalen Bankrott schützen übrigens die in regelmäßigen Abständen möglichen Scav-Runs, während derer Spieler in die Haut eines zufälligen NPC-Scavengers schlüpfen und die Beute nach der Flucht ins eigene Lager übernehmen dürfen. Wohl das “freundlichste” Feature Tarkovs.)
  • Durch das Erfüllen von Aufgaben für die NPC-Händler lässt sich dauerhafter Zugriff auf hochwertigere (und teurere) Ausrüstung freischalten.

Doch was noch viel wichtiger ist: Das Metagame ist Treibstoff für die Spieltiefe. Aus ihm ergeben sich unendlich nuancierte Zielsetzungen und eine ebensolche Definition des “Gewinnens”. Formal betrachtet mag das Überleben eines Raids mit erfolgreicher Extraktion einen “Sieg” darstellen. Selbiger ist jedoch wenig wert, wenn dabei nichts erreicht, keine Aufgabe erfüllt, kein wichtiges Crafting- oder Baumaterial gesammelt, keine wertvolle Ausrüstung ergattert wurde.

Umgekehrt kann ein tödlich verlaufener Raid – mindestens anteilig – als Erfolg gewertet werden, wenn etwa vor dem Ableben endlich eine knifflige Quest abgeschlossen oder ein wertvolles Item im Sicherheits-Container platziert werden konnte.

Unfair mit System

Diese Aufweichung der klassischen “Siegbedingung” braucht es auch, denn fair geht es in Tarkov nicht zu. Reiche, hochlevelige Spieler mit getunten Gewehren, höchster Rüstungsklasse und maximal effektiven Schmerzmitteln werden mit Neulingen zusammen in Raids geworfen. Solo-Kämpfer treffen auch mal zufällig auf Duos oder Trios. Für das Matchmaking zählt nur, dass die Spieler zur gleichen Zeit eine bestimmte Map ausgewählt haben.

Hier stellt sich Tarkov – um die Breite der möglichen Ausgangslagen und damit die Wiederspielbarkeit auszureizen – ganz bewusst gegen das übliche “Flow”-Verständnis. Herausforderungen orientieren sich nicht am Spieler, sondern können regelmäßig über- oder unterfordern. Die Umstände dahingehend immer wieder zu evaluieren, ist selbst Teil des Spiels. Denn neben der jeweiligen Aufgabe, Ausrüstung und dem noch verbleibenden Platz im Rucksack muss der Spielstil auch immer wieder an die aktuelle Umgebung angepasst werden. Die Einschätzung, mit welcher Ausrüstung andere Spieler unterwegs sind – etwa anhand von Waffensounds – und damit die Abwägung, wie aggressiv bis heimlich vorgegangen werden sollte, gehört fest zum Tarkov-Skill-Paket.

Die Basics erklärt von einem der profiliertesten Tarkov-Spieler.

Und genau das funktioniert dank der erwähnten stark individuellen Definition des Erfolgs ganz hervorragend. Dies ist kein Battle-Royale. Die Maps sind nicht primär Kampf-Arenen. Andere Spieler zu meiden oder vor ihnen zu fliehen, ist eine absolut valide Strategie. Manchmal aber auch eine schlechte. Die möglichen Kombinationen aus der extremen Varianz in der Zusammensetzung jedes Raids sowie den jeweiligen Metagame-Zuständen der Spieler sind praktisch unendlich und generieren immer wieder neue Situationen, die in ihrer Vielfalt klassische “Deathmatches” weit hinter sich lassen und dem Shooter ein gehöriges planerisches Element hinzufügen.

Emergente Geschichten

Doch auch wenn sich die Wege zweier Spieler kreuzen, laufen in Sekunden komplexe Entscheidungsprozesse ab, die sich wiederum fundamental aus dem Metagame speisen. Erste Überlegung: Was habe ich am Körper oder im Rucksack (und damit zu verlieren)?

Und darauf aufbauend: Wo ist die nächste Deckung? Wie weit ist es zum nächsten Extraktionspunkt? Wurde ich bereits gehört und wie ruhig sollte ich mich verhalten (die Laufgeschwindigkeit und damit -lautstärke kann in mehreren Stufen reguliert werden)? Aus welchem Winkel werde ich am wenigsten erwartet? Habe ich es mit einer Gruppe zu tun? Habe ich während des Raids weitere Spieler gehört oder gesehen, die versuchen könnten, von einem Konflikt zu profitieren? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie selbst nur eine bestimmte Quest erfüllen wollten und sich bereits aus dem Staub gemacht haben?

Kurz: Das Metagame bettet die kurzweiligen Raid-Spannungsbögen derart in ein größeres Ganzes ein, dass diese enorm an Tiefe gewinnen und immer wieder bemerkenswerte Geschichten erzeugen.

“The perfect raid is the kind of raid that you are so thrilled about that you want to post it, on reddit for example […] like you are so eager to post it and tell the story about it.”

(Nikita Buyanov – Game Director von Escape from Tarkov)

Obiges Zitat bringt den einzigartigen Kern der Tarkov-Vision auf den Punkt. Es ist davon auszugehen, dass die resultierende spielerische Formel in den nächsten Jahren um sich greifen wird. Mit The Cycle: Frontier steht eine zugänglichere Scifi-Variante in den Startlöchern. Auf Mobile kommt Lost Light. Auch Battlefield 2042 liefert mit dem neuen Modus “Hazard Zone” ein Tarkov-like mit. Doch auch Abseits der Shooter-Welt besteht großes Potenzial. Schließlich lässt sich das Raid-Gameplay nahezu beliebig austauschen, ohne dabei an den Eckpfeilern des Konzepts zu rütteln. Auch Singleplayer-Varianten sind ohne Weiteres denkbar.

Auf die Frage, ob Tarkov selbst die Zeit wert ist, muss man – passend zum Spiel – eine nuancierte Antwort geben: Ja, aber es braucht viel davon. Alleine die teils ausladenden Maps richtig kennenzulernen dauert Wochen (eine Minimap gibt es im Spiel nicht, Orientierung erfolgt per Kompass und klassischem Kartenlesen auf dem Zweitmonitor). Die Wertigkeit der unzähligen Gegenstände, Munitionssorten und Waffen lässt sich erst nach hunderten Stunden vollständig einschätzen. Wo genau eine Quest zu erledigen ist, steht nur im offiziellen Wiki.

Zumindest im Shooter-Part können Skills aus anderen Spielen übertragen werden, jedoch verzeiht auch dieser wenig und erfordert mit seiner Maßgabe “as realistic as playable” ein sehr methodisches Vorgehen, das vielmehr einem ARMA gleicht als arcadigem Baller-Spaß. Zur Belohnung gibt es aus Spieler-Sicht eine absolut einzigartige Erfahrung und eine schier unendliche Vielfalt spannender Situationen; und für Game-Designer die Infragestellung diverser liebgewonnener Grundprinzipien sowie zig frische Denkanstöße.

In diesem Sinne…

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