Solve et coagula: Ludonarrative Synthese

Die Grundphilosophie dieses Artikels erklärt Alan Moore (0:50:49).

Geschichte und Spiel. Story und System. Eine immer wieder erneuerte Ehe voller Probleme und Missverständnisse. Achterbahnfahrten aus Streitigkeiten und Versöhnungsversuchen. So geht es zwar immer irgendwie weiter, allerdings für keine der beiden Seiten auf wirklich befriedigende Art und Weise.

Die folgenden Ausführungen gehen deshalb zunächst einen Schritt zurück. Ausgangspunkt ist Thomas Grips SSM-Modell. In dessen Rahmen werden die narrativen sowie systemischen Aspekte von Spielen treffend analysiert (“solve”). Der im Anschluss nötige Schritt der Synthese (“coagula”) wird allerdings nur recht ungenau dargestellt und führt weniger zu neuen Erkenntnissen oder Präzisierungen als zu einer bloßen Beschreibung bestehender Verhältnisse.

Dem sollen an dieser Stelle zwei konkrete Ergebnisse ludonarrativer Synthese entgegengestellt werden – mögliche synergistische Brücken zwischen zwei sich in der Theorie widerstrebenden Welten. Daraus werden des Weiteren zwei gleichermaßen valide, jedoch fundamental verschiedenartige Game-Design-Ansätze abgeleitet.

Von Systemen und Geschichten

Zunächst einige Definitionen. Aus dem SSM-Modell ergeben sich – mit leicht vereinfachter Wortwahl – unmittelbar die folgenden Elemente:

  • System
    • Rules: Im Kern besteht ein System aus Regeln, die sein Verhalten definieren.
    • Interactions: Das Zusammenspiel der Regeln erzeugt im Kontext der Eingaben des Spielers eine spezifische Dynamik: Gameplay.
  • Story
    • Audiovisuals: Auf unterster Ebene sind narrative Elemente schlicht audiovisuelle Bausteine.
    • Plot: Über Szenen und Ereignisse wird eine, beliebig explizite, Handlung zusammengesetzt.

Problematisch ist nun, wie bereits angedeutet, die gleichberechtigte Zusammenführung beider Seiten.

Systeme sind grundsätzlich stark an den Spieler gebunden. Wie fordernd oder interessant die Interaktion mit dem Regelwerk ist und dauerhaft bleibt, hängt schließlich in weiten Teilen von der Erfahrung und Vorbildung des jeweiligen Spielers ab. Im Idealfall wird der Spieler weder unter- noch überfordert und befindet sich im “Flow”. Durch den übermäßigen Einsatz von passiven, erzählerischen Elementen, wird der Spielfluss jedoch wiederholt unterbrochen.

Geschichten hingegen sind deutlich linearer und in ihrer Wirkung vergleichsweise strikt geplant. Vollwertige skillbasierte Gameplay-Loops sind dabei dementsprechend nur bedingt sinnvoll. In der Regel werden sie vielmehr als “nerviges Hindernis” vor der nächsten narrativen Sequenz stehen und so das Pacing der Erzählung stören. Viele Erzählspiele entfernen diese Loops deshalb heutzutage praktisch vollständig (Heavy Rain, Gone Home) oder halten sie extrem simpel (Uncharted), um den narrativen Fluss nicht zu gefährden.

Inhärenter Zielkonflikt

Der grundsätzliche Antagonismus zwischen Story und System muss nicht verwundern. Schließlich verfolgen beide Seiten, unabhängig voneinander betrachtet, ganz verschiedene Ziele. An dieser Stelle wird ein alternatives “M” im SSM-Modell benötigt:

  • Systeme wollen in mentale Modelle übertragen werden.
    • Knowledge: Spieler begreifen das Regelwerk.
    • Understanding: Spieler überführen ihr Wissen im Kontext der Lehren, die sie aus ihrem Erleben der Gameplay-Dynamiken ziehen, auf eine höhere Ebene. Sie verstehen immer komplexere systemische Zusammenhänge.
  • Geschichten vermitteln Botschaften (Messages).
    • Statement: Aus dem Plot ergibt sich eine spezifische Aussage.
    • Emotion: Anhand emotionaler Reize wird die getroffene Aussage eingeordnet und bewertet.

Eine gleichberechtigte Partnerschaft wird daher zwangsläufig eine endlose Abfolge aus Kompromissen darstellen und in ihrem Potenzial stark begrenzt sein. Deshalb muss stets eine der beiden Parteien die klare Führungsrolle übernehmen. In den beiden daraus entstehenden Design-Ansätzen lassen sich dann auch tatsächlich synergistische Effekte erzielen, die im Folgenden näher beschrieben werden.

Synthese I: Interaktive Systeme

Mit dem System in der Führungsrolle entstehen durch das Gameplay getriebene Spiele. Sie wollen wiederholt gespielt werden (play). Spieler verfeinern iterativ ihr mentales Modell und lernen, die Dynamiken des Spiels gezielt zu beeinflussen. Die Ergründung der mechanischen Tiefe steht im Vordergrund.

Spiele aus dieser Kategorie werden nicht aufgrund ihrer Geschichte gespielt. Jedoch unterstützen Story-Elemente die Spieler in ihrer Intuition beim Aufbau von Regel- und Spielverständnis. Thematische und narrative Bausteine dienen dem System. Sie können beliebig abstrakt (Schachfiguren) oder explizit (Erzählpassagen) auftreten.

Narrative Unterstützung: Licht und Schatten

Auch vergleichsweise abstrakte Spiele nutzen narrative Symbolik.

Schon auf den ersten Blick eher trockene visuelle Repräsentationen gehören dabei in die Story-Kategorie. So stehen beispielsweise die Würfelsymbole in Axes and Acres für verschiedene Arbeiterrollen. Der “Hammer” kann als Handwerker Gebäude errichten, “Spitzhacke und Schaufel” arbeiten auf dem Feld oder im Steinbruch. Hier wird das Allgemeinwissen der Spieler gezielt genutzt.

Einen weniger sinnvollen Einsatz narrativer Elemente demonstriert der Folgetitel vom gleichen Entwickler: SkyBoats. Hier werden Spargel, Karotten, Bananen und, ja, Rubine verbraucht, um Luftschiffe anzutreiben oder gar spezielle Muster aus Windströmen auf dem Spielfeld zu erzeugen. Die Hintergründe dieser Logik dürften selbst den Machern nicht ganz klar sein.

Natürlich geht es, auch im Reich der “Gameplay-Spiele”, weniger abstrakt. Einen Schritt in Richtung expliziter Erzählung geht zum Beispiel der berühmte “Companion Cube” aus Portal, der den Spieler durch den Level begleitet. Karten in Gwent basieren in ihrer Mechanik regelmäßig auf Geschichten aus dem Witcher-Universum (Ronvid of Small Marsh). Charaktere aus Overwatch oder Atlas Reactor weisen teils detaillierte Hintergrundgeschichten auf.

Kurz: Mit einem passenden narrativen Anstrich lassen sich abstrakte Mechanismen und Zusammenhänge leichter begreifen und einprägen.

Synthese II: Interaktive Geschichten

Im Gegensatz zu den genannten Beispielen setzen narrativ getriebene Spiele auf die Vermittlung einer bestimmten Erfahrung (experience), etwa anhand einer Ausnahmesituation (Papers, Please) oder einer gesellschaftlichen Rolle (Cart Life). Spieler erleben Ereignisse, führen Aktionen aus und werden in bestimmte emotionale Stadien versetzt.

Die Mechanik dient primär der Unterstützung dieser Wahrnehmung und tritt daher nicht selten in linearen Bögen – statt in sich geschlossener Loops – auf. Das System dient der Story. Titel aus dieser Kategorie werden dementsprechend nicht für die Interaktion an sich gespielt und wären ohne ihre starke Erzählung vergleichsweise uninteressant.

Mechanische Unterstützung: Sackgassen

Da dieser Design-Ansatz noch sehr jung ist, weisen entsprechende Werke teils stark experimentelle Grundzüge auf.

Fragwürdig sind beispielsweise sogenannte Quick-Time-Events – das Drücken vorgegebener Buttons zur rechten Zeit. Trotz ihrer simplen Mechanik verdrängen sie regelmäßig die Geschichte vom Fahrersitz. Spieler werden hier nicht in die narrative Situation versetzt. Ganz im Gegenteil: Ihre eigenen Reflexe diktieren unmittelbar die körperlichen Fähigkeiten des Story-Protagonisten.

Spieler verschmelzen nicht in ihrem Denken und Fühlen – und damit der narrativen Message – mit den Handelnden, sondern verbleiben auf der Ebene des mechanischen Controller-Akrobaten. Und wenn es mal nicht klappt, wird die Szene einfach erneut abgespult. Denn eigentlich war die Story ja noch gar nicht vorbei. Immersiv geht anders.

Die vielleicht plakativste Form “interaktiven Erzählens”. (Until Dawn)

Andere Spiele wie The Walking Dead bilden ihre Mechanik direkt in der Story ab, indem sie dem Spieler die Entscheidung überlassen, wie selbige weitergehen soll. Diese Entscheidungen können im Extremfall die Message der Geschichte verändern. Es stellt sich allerdings die Frage, ob sie dann nicht eigentlich Autorenentscheidungen sind und überhaupt dem Publikum überlassen werden sollten.

Führt der Spieler andererseits keine signifikanten Änderungen herbei, war die Entscheidung ohnehin irrelevant. Letzteres ist im Übrigen der Regelfall: Um übermäßige Verzweigungen zu vermeiden, handelt es sich bei einem Großteil der Optionen zwangsläufig um “fake choices”. Spätestens bei der Beschäftigung mit einem solchen Titel über das einmalige Durchspielen hinaus, tritt somit auch hier der suboptimale Einsatz der Interaktivität zutage.

Und natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Mechanik schlicht gar nicht erst zur Geschichte passt. In aller Regel geht dies einher mit dem altbekannten Problem der ludonarrativen Dissonanz. Mechanik und Narrativ kämpfen um die Führungsposition. Letztlich leiden beide.

Mechanische Unterstützung: Vorreiter

Doch nicht verzagen! Zuletzt zeigen immer wieder herausragende Vertreter des interaktiven Erzählens, wie es sehr viel besser geht.

Brothers: A Tale of Two Sons etabliert die gesamte Spielzeit über eine Dual-Stick-Mechanik zur Kontrolle zweier Brüder, nur um dann mit dieser zu brechen und sie in einem fulminanten Finale auf emotional äußerst effektive Art und Weise (Spoiler!) wieder aufzunehmen. Dabei handelt es sich um eine sehr viel konsequentere und enger an der Handlung ausgerichtete Einbindung der interaktiven Komponente als bei den zuvor genannten Beispielen.

Eine Andeutung der potenziellen Kraft mechanisch unterstützter Narration.

Ähnliches gilt für What Remains of Edith Finch. Stellvertretend sei die Szene in der “Fischfabrik” (Spoiler!) erwähnt. Einerseits wird hier stupide Fleißarbeit durch treffend repetitives Gameplay repräsentiert. Zugleich erlebt der Spieler jedoch anhand explorativer Mechanismen die, immer mehr Raum einnehmende, Flucht des Protagonisten in die eigene Fantasie. Die dualistische Gedankenwelt der dargestellten Figur wird hier spielerisch greifbar gemacht.

Dies gelingt über weite Strecken auch Soma von Thomas Grips Frictional Games. Zuverlässig versetzt es, spielerisch wie audiovisuell, in Angst, spannt Mysterien auf und bringt den Spieler dazu, sich die gleichen Fragen zu stellen, mit denen sich auch der Protagonist konfrontiert sieht. Begleitet wird das Ganze von einem durchweg narrativ relevanten Umgang mit der Egoperspektive.

Auch gänzlich anders ausgerichtete Beispiele wie das detektivische und nur minimal mechanische Her Story, das Metaebenen-Hochhaus The Stanley Parable oder das spielerisch wie thematisch bedrückende This War of Mine deuten an, welches Potenzial noch im Design-Ansatz des interaktiven Erzählens schlummert.

Die Spitzen der Eisberge

Am Ende kann es also doch eine symbiotische Beziehung zwischen Story und Game geben – solange einer der beiden Partner das Heft in die Hand nimmt und der andere gezielt unterstützt. Interaktive Systeme sollten narrative Elemente behutsam zur Optimierung des mechanischen Lernvorgangs einsetzen. Interaktive Geschichten wiederum tun gut daran, spielerische Mechanismen konsequent zur Unterstützung der vermittelten Botschaften einzusetzen. Versuchen beide Seiten, gleichermaßen zu führen, werden sie sich gegenseitig auf die Füße treten.

Um beide Ausprägungen des “Spielens” weiter zu verfeinern, braucht es in Zukunft eine klarere Unterscheidung zwischen den Design-Ansätzen. Sowohl im kreativen Prozess und der Kritik als auch beim Publikum werden jeweils sehr unterschiedliche Fähigkeiten, Perspektiven und Vorlieben bemüht. Es handelt sich letztlich um zwei verschiedene Medien, denen lediglich die interaktive Komponente gemeinsam ist.

Die Ausdifferenzierung in der öffentlichen Wahrnehmung wird früher oder später stattfinden. Beide Kunstformen sind noch auf der Suche nach der eigenen Identität und haben gerade erst damit begonnen, ihre individuellen Ansprüche und Eigenschaften auszuformulieren. Fest steht, dass wir bislang bloß die Spitzen zweier vermutlich ziemlich gewaltiger Eisberge im Blick haben.

Na dann, Mast- und Schotbruch!


Vielen Dank an Sebastian S. (Xing) für Feedback und gedankliches “Sparring”!

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